Ich beginne diesen Blogartikel, indem ich mich als Frau mit einem MINT Beruf (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) oute – konkret als Ingenieurin. Ich habe die ersten Jahre meines Berufslebens mit Leichtbau und Strukturoptimierung verbracht. Lang lang ist es her.
Normalerweise genieße ich es sehr, wenn mich das Anliegen von Coaching-KlientInnen an eigene Situationen oder mein früheres Selbst erinnern. Das Hineinversetzen in das Gegenüber funktioniert dann wie von selbst. Die relevanten Details in den Schilderungen springen einen geradezu an. Die Lösungsfindung hat meist eine tolle Dynamik.
Nun sitze ich einer jungen Frau gegenüber – ebenfalls Ingenieurin. Sie arbeitet in ihrem ersten Job nach dem Studium bei einem renommierten Autohersteller. Eine gemeinsame Bekannte hat den Kontakt hergestellt. Ich weiß nur, dass sie frustriert ist, der Job nicht wie erwartet läuft und sie nun nach einem Weg sucht, der die Situation verbessert. Eine sehr klassische Situation bei vielen meiner KlientInnen.
Wir beginnen das Gespräch und mir wird schnell klar, dass diese talentierte, intelligente und ambitionierte junge Frau in einem klassischen Kulturschock-Szenario gelandet ist – einem, das ich nur allzu gut selbst kenne und das tatsächlich viele meiner Klientinnen am Anfang der Karriere durchleben.
Warum ich diesen Blogartikel schreibe? Um allen jungen Frauen in der gleichen Situation, die über diesen Artikel stolpern, zu sagen „Du bist nicht allein!“. Um das Problem sichtbarer zu machen und eventuell damit einen kleinen Beitrag zu einer kontinuierlichen Verbesserung zu leisten – durch Empowerment und hoffentlich irgendwann durch die Situationsveränderung in den Unternehmen.
MINT braucht mehr Frauen. Diversität steigert nachweislich die Innovationskraft und Leistung. Und es gibt aktuell noch zu viele Frauen, deren Stärken sie prädestinieren für eine Tätigkeit in MINT Berufen, die aber aufgrund der Reibungen auf dem Weg letzendlich doch andere Wege einschlagen.
Übersicht
- Der Start ins Berufsleben bei Frauen in MINT Berufen
- Kulturschock 1 beim Berufseinstieg von Frauen in MINT Berufen – Konzern
- Kulturschock 2 beim Berufseinstieg von Frauen in MINT Berufen – Generation
- Kulturschock 3 beim Berufseinstieg von Frauen in MINT Berufen – Geschlechterkonflikt
- Und wenn alle 3 Kulturschock-Aspekte zusammenkommen?
- Fazit – Kulturschock beim Berufseinstieg für Frauen in MINT Berufen
Der Start ins Berufsleben bei Frauen in MINT Berufen
Für jeden Studenten ist der Einstieg ins Berufsleben eine Umstellung. Und gerade der Einstieg in den Job in einem Konzern stellt in mehrerlei Hinsicht nach dem Studium eine sehr große Veränderung dar. Für Frauen in MINT Berufen kommen aber noch weitere Punkte hinzu. Diese Aspekte führen in Summe oft zu einer starken Diskrepanz zwischen Erwartungen und Realität und dann in der Konsequenz zu Ernüchterung, Enttäuschung und gegebenenfalls sogar zum Wechsel der beruflichen Laufbahn.
Der Bedarf, Frauen für MINT Berufe zu begeistern und insgesamt eine höhere Diversität zu schaffen, wurde bereits seit längerem erkannt. Viele Initiativen haben schon sehr positive Veränderungen in den Statistiken bewirkt – so haben beispielsweise 2020 Frauen schon 29% aller Studierenden in MINT Fächern in Deutschland ausgemacht. Trotzdem ist die Veränderung langsam, und bis sie sich vom Nachwuchs durch die Karriereleiter nach oben fortsetzt, ist es ein weiter Weg. Aus diesem Grund ist eine bessere Gestaltung des Jobeinstiegs ein wesentlicher Schritt, um langfristig mehr geschlechtliche Diversität in MINT Berufen zu erreichen.
Um als Frau den Einstieg in den Job adäquat einzuschätzen, braucht es Bewusstsein über die Aspekte des zu erwartenden Kulturschocks. Und Unternehmen sollten sich diesen bewusst machen und an der kontinuierlichen Reduktion arbeiten. Die 3 Aspekte des Kulturschocks beim Jobeinstieg für Frauen in MINT Berufen sind:
- Kulturschock Konzern
- Generationenkonflikt
- Geschlechterkonflikt
Kulturschock 1 beim Berufseinstieg – Konzern
Machen wir uns nichts vor: Egal wie agil ein Konzern arbeiten will, sind die meisten doch eher mit schwerfälligen Tankern als mit kleinen wendigen Speedbooten zu vergleichen – in unterschiedlicher Dimensionierung und Einschränkung der Wendigkeit, aber Tanker bleibt Tanker.
Dafür gibt es natürlich auch Gründe. In einem Unternehmen, das eine gewisse Größe überschreitet, muss es Regeln geben, die für die gemeinsame Funktion aller Einzelteile sorgen. Es muss gewisse Entscheidungsstrukturen und damit Hierarchien geben, es muss Prozesse, Vorschriften und klar definierte Zuständigkeitsbereiche geben.
Nun kommt ein Absolvent von der Uni, in der es normal ist, Semester für Semester unterschiedliche Fächer zu absolvieren. Im Sprintformat wird auf Ziele wie Prüfungen hingearbeitet. Es gibt verhältnismäßig viele Möglichkeiten, Dinge auszuprobieren und die Richtung entsprechend von Interessen und Stärken zu korrigieren. Es ist erlaubt und sogar sinnvoll, seine eigene Arbeitsweise zu finden, die den eigenen Neigungen sowie der für einen am besten geeigneten Art zu lernen und zu arbeiten entspricht.
Akklimatisierungsprobleme, die dann auftauchen, sind natürlich individuell aber meistens zumindest teilweise in diesen Bereichen beheimatet:
- Vorgegebene Arbeitsprozesse
- Einzuhaltende Kommunikations- und Entscheidungswege
- Grenzen der eigenen Befugnisse und Zuständigkeiten
- Mehr Routinen und langfristige statt kurzfristige Zielsetzungen
- Allgemeine Entschleunigung
Kulturschock 2 beim Berufseinstieg – Generation
Innerhalb der letzten Generationen haben sich Werte, Ansprüche an die Arbeit selbst und die Arbeitgeber drastisch verändert. Der Anspruch an Perspektiven, neue Herausforderungen und Entwicklungsmöglichkeiten ist deutlich schnelllebiger und diverser geworden. Der Anspruch an sinnhafte Arbeit sowie gestiftetem Mehrwert von Aufgabe und Unternehmen sind gestiegen. Mit dem mehr an Möglichkeiten (z. B. durch Digitalisierung) und dem auch in jungen Jahren oft schon sehr breiten Schatz an Erfahrungen (z. B. durch Auslandserfahrung, Praktika und Zugänglichkeit von Online-Informationen) entsteht oft der Wunsch nach einem Beitrag zu Veränderungen. Damit sinkt auch die Bereitschaft, den Status Quo blind zu akzeptieren und der Anspruch ans Veränderungstempo steigt.
Dies passt nun sehr gut zum Umfeld, aus dem Berufseinsteiger kommen. Im Studium lernen sie fachlich und persönlich und sind damit ununterbrochen in einer rasanten Entwicklung. Selbst Praktika sind in der Regel kurze Einblicke mit konkreter Aufgabenstellung.
Nun kommen die Absolventen in den Job. Als wäre die Entschleunigung durch eine langfristigere Gestaltung der Aufgaben und mehr Routinen nicht genug, entstehen oft zusätzlich Konflikte zwischen den Generationen. Die herrschende Kultur spiegelt die vorhandene Mitarbeiterschaft wider, das Führungsverhalten ist auf die bisherigen Mitarbeiter ausgelegt und für diese optimiert.
Die meisten Konzerne bemühen sich, ihre Kultur den Bedürfnissen der jungen Generationen anzupassen, um Talente für sich gewinnen und an sich binden zu können. Doch ein Großteil des Mitarbeiterbestandes arbeitet noch anders und vertritt andere Werte. So bringen beide Seiten ihre Bedürfnisse ein und im Prozess entsteht ein zum aktuellen Status passendes Gleichgewicht als Kompromiss. Kommen nun junge, dynamische Mitarbeiter in Teams, wird dieses Gelichgewicht aber erst einmal durcheinandergebracht. Es entstehen Reibungen und Konflikte und irgendwann stellt sich wieder ein Normalzustand ein – häufig sehr weit weg von dem, was die frischgebackenen Absolventen gewohnt sind oder sich wünschen würden.
Kulturschock 3 beim Berufseinstieg von Frauen in MINT Berufen – Geschlechterkonflikt
Während die ersten beiden Kulturschock-Aspekte in ähnlicher Weise für Männer wie für Frauen gelten, haben Frauen in MINT-Berufen und –Branchen eine zumeist weitere erschwerende Komponente zu tragen.
Frauen haben statistisch nochmal andere Werte und Bedürfnisse in puncto Führung als Männer. Doch auch hier ist das Umfeld im Unternehmen auf die vorhandenen Mitarbeiter eingestellt. Die Berücksichtigung von anderen Bedürfnissen dauert auch hier Zeit und führt erstmal zu Reibungen. Dazu kommt, dass sich oft auch die Außenwahrnehmung zwischen jungen Männern und jungen Frauen unterscheidet. So werden Frauen im Schnitt als zurückhaltender und weniger proaktiv wahrgenommen. Die Bereitschaft zu Konflikten und und Risiken ist oft unterschiedlich. Dies Verlangsamt nochmals das Tempo, in dem jungen Frauen mehr Verantwortung übertragen wird.
Ebenfalls problematisch ist die nur langsam vorangehende Erhöhung des Frauenanteils in hierarchisch höheren Ebenen. Hier haben Frauen einen klaren Nachteil gegenüber Männern, denn die Anzahl an Vorbildern ist geringer und es ist oft schwerer Mentoren und Sponsoren zu finden.
Sheryl Sandberg beschreibt dies ausführlich und gibt diverse Verhaltensempfehlungen in ihrem Buch „Lean in“, das ich an dieser Stelle allen jungen Frauen mit Karriereambitionen nur wärmstens empfehlen kann.
Und wenn alle 3 Kulturschock-Aspekte zusammenkommen?
Für Frauen in MINT Berufen – alle 3 Kulturschock-Aspekte
Im Rahmen von Coaching-Sitzungen mit jungen Frauen, die genau in diesem Problem feststecken, höre ich dann oft Aussagen wie „Es wäre doch viel sinnvoller, das anders zu machen. Wenn ich das sage, werde ich belächelt und es wird gesagt, dass das schon immer so gemacht wurde und dass ich halt noch zu neu bin, um das ganzheitlich zu verstehen.“ Ja, so etwas wird jungen Menschen voller Tatendrang, Ideen und Energie gesagt. Und hier sind auch wunderbar die filigranen Vernetzungen aller drei Aspekte zu finden.
„Das war schon immer so“ – ein Satz, den ich leider oft aus deutschen Konzernen höre. Diese Haltung herrscht in zu vielen Konzernen und Bereichen auf Arbeitsebene. Dies macht mir ehrlich gesagt auch über das hier beschriebene Thema hinaus große Sorgen. Im internationalen Vergleich zieht Deutschland hier in Bezug auf Veränderungsgeschwindigkeit und -bereitschaft oft den Kürzeren. Doch gerade dies wird in den nächsten Jahrzehnten über das Fortbestehen so vieler Unternehmen bestimmen. Dieses Thema im Detail zu beleuchten würde hier aber wohl den Rahmen sprengen und muss daher an anderer Stelle fortgeführt werden.
„Du kannst das nicht verstehen, du bist ja noch so jung/unerfahren“ – ein Satz, der mir die Fußnägel hochzieht. Wie sollen denn innovative Ideen entstehen und Menschen agil arbeiten, wenn sie direkt bei den ersten Versuchen mit solcher Abfälligkeit klein gehalten werden?
Und von Kollegen mit mehr Seniorität belächelt zu werden – wie viele meiner männlichen Klienten haben das wohl schon erlebt oder als Teil des Problems artikuliert? Die allerwenigsten. Wie viele meiner Klientinnen beschreiben Varianten dieser Situation – fast alle, zwar selten als flächendeckendes Muster, aber die meisten beschreiben einzelne Kollegen oder Führungskräfte, die sie in dieser Form nicht ernst nehmen und respektieren.
Versteht mich nicht falsch: Ein junger Mitarbeiter kann gar nicht alles wissen und mit Sicherheit ist auch nicht jede Idee gut. Auf deren Initiative aber in einer Form zu reagieren, die entmutigt, das Selbstbewusstsein reduziert, Vertrauen auf einen geschützten Rahmen beschädigt und mangelnden Respekt vermittelt….
… Wie oft wird die junge Kollegin wohl noch diesen Schritt wagen – mitzudenken, den Status Quo zu hinterfragen und Ideen zur Verbesserung einzubringen?
Hier geht Konzernen unheimlich viel Potential verloren.
Ist der besagte, destruktiv agierende Kollege nun auch noch der direkte Vorgesetzte und das Unternehmen eher hierarchisch in seinen Kommunikations- und Entscheidungswegen – wie sollen junge Frauen dort Fuß fassen? Wie sollen sie ein Umfeld für persönliches und fachliches Wachstum und eine Perspektive für sich sehen?
Gerade Teamleiter tragen aus meiner Sicht hier eine riesige Verantwortung und sind in diesem ersten Schritt ins Berufsleben ein entscheidender Faktor, ob die junge Frau auf diesem Berufsweg bleibt oder sich einen neuen sucht. Teamleiter sollten genau auf diese Verantwortung vorbereitet werden. Nur so werden Unternehmen das Potential von jungen Frauen auch in MINT Berufen zunehmend nutzbar machen.
Fazit – Kulturschock beim Berufseinstieg für Frauen in MINT Berufen
An all die jungen Frauen da draußen, die aus den beschriebenen Gründen frustriert in ihrem Job sind – ihr seid nicht allein. Tauscht euch mit anderen Frauen aus, sucht euch Mentoren und Vorbilder. Redet darüber, welche Probleme ihr erlebt und welche Strategien funktionieren oder auch nicht funktionieren. Lasst euch nicht unterkriegen und werdet kreativ bei der Gestaltung eures Wegs durch diese Unwegsamkeiten im Berufseinstieg!
An all die Unternehmen da draußen, die das Potential von Frauen in MINT-Berufen sehen und fördern wollen: Unterstützt die Frauen durch eine Kultur der Offenheit und Lösungsorientiertheit. Verfolgt eine Nulltolleranzstrategie bei offener Diskriminierung, motiviert eine Speak-up-Kultur und sensibilisiert eure Teamleiter und Führungskräfte für die speziellen Anforderungen beim Führen von Generation Y und Z sowie von Frauen im Speziellen.
Bist du in einer solchen Situation und suchst Unterstützung beim Umgang damit, kontaktiere mich gerne oder vereinbare ein unverbindliches und kostenloses Coaching-Erstgespräch.